Die Vorhersagen vieler Wirtschaftsforscher, ein ähnlicher Boom wie im Vorjahr werde ein rasches Ende aller staatlichen Stützungsmaßnahmen ermöglichen, haben sich nicht bewahrheitet. Am Ende des ersten Halbjahrs war das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland sogar niedriger als zum Jahresstart. Das Handelsblatt Research Institute (HRI) bleibt daher bei seiner bereits im Frühjahr prognostizierten Einschätzung, dass die Wirtschaft im laufenden Jahr um 2,7 und im kommenden Jahr um 3,7 Prozent wachsen wird.
„Corona-Pandemie und Lieferengpässe werden die Erholung zunächst weiter bremsen; ein Boomquartal, wie im Sommer 2020 mit neun Prozent Wachstum, wird es dieses Jahr nicht geben“, sagte HRI-Präsident Bert Rürup. Gleichwohl dürfte sich die konjunkturelle Lage allmählich normalisieren. Marktmechanismen dürften die Knappheit bei Vorprodukten beheben, da die Unternehmen ihre Beschaffungsstrategien und Lieferketten entsprechend justieren werden. Zudem lerne Deutschland, mit dem Corona-Virus zu leben, sodass die Einschränkungen sukzessive weiter zurückgefahren werden dürften.
Der Außenhandel legt laut der HRI-Prognose weiter dynamisch zu und wird dieses Jahr erstmals seit 2010 wieder zweistellige Zuwachsraten bei Ex- und Importen aufweisen. Deutschland, als eine der größten Handelsnationen der Welt, profitiere traditionell stark von einem anziehenden Welthandel, der davon beflügelt werde, dass die USA und China offenbar kein Interesse an einer neuen Eskalation der Handelsstreitigkeiten hätten. Deshalb werde der Außenhandel im laufenden Jahr erstmals seit sieben Jahren mit 0,5 Prozentpunkten wieder einen nennenswerten Beitrag zum Wachstum der deutschen Volkswirtschaft beitragen, so die HRI-Ökonomen.
Im Schlussquartal 2021 wird laut HRI-Prognose die deutsche Wirtschaftsleistung auf Quartalsbasis wieder das Vorkrisenniveau erreichen. In diesem Fall wäre die Erholungsphase zwei bis drei Quartale kürzer als nach der Finanzkrise gewesen. Gleichwohl seien die gesamtwirtschaftlichen Schäden immens; Deutschland fehlten dauerhaft acht Quartale Trendwachstum und die daraus erwarteten Steuer- und Beitragseinnahmen.
„Neue Goldene 20er-Jahre wird es aller Voraussicht nach nicht geben“, sagte Rürup. Vielmehr stehe die neue Regierung vor der Aufgabe, unverkennbare Defizite in der digitalen Infrastruktur und der Digitalisierung des Staates zügig aufzuholen, den gleichzeitigen Ausstieg aus der Atom- und Kohlestromproduktion zu bewältigen sowie die ökonomischen und sozialen Folgen des bald einsetzenden Alterungsschubs abzufedern. Gleichzeitig gelte es, Deutschland attraktiver für Investoren und qualifizierte Arbeitskräfte aus aller Welt zu machen, betonte der ehemalige Vorsitzende des Sachverständigenrats.
Die anziehende Nachfrage sowie höhere Kosten für Rohstoffe und Vorprodukte haben die Verbraucherpreise in den vergangenen Monaten kräftig steigen lassen. Das HRI geht davon aus, dass erstmals seit Einführung des Euro die Inflationsrate in Deutschland im Jahresmittel auf über drei Prozent steigen wird – auch wegen der Rücknahme der Mehrwertsteuersenkung, der neuen CO2-Abgabe und der Verdopplung des Ölpreises. Im kommenden Jahr dürften die Preise zwar weiter anziehen, jedoch verlangsamt sich die Teuerungsrate, wenn die Basiseffekte auslaufen. Im Jahresmittel 2022 werde die Inflationsrate daher zwei Prozent betragen und damit auf dem von der EZB für den Euroraum angestrebten Niveau liegen.